Der Heilige by Meyer Conrad Ferdinand

Der Heilige by Meyer Conrad Ferdinand

Autor:Meyer, Conrad Ferdinand
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: (Privatkopie)
veröffentlicht: 2010-02-03T05:00:00+00:00


So ganz neben das Ziel traf übrigens mein Herr und König in der Laune seiner Trunkenheit nicht, wenn er meinte, der Kanzler ergebe sich zeitweilig tiefsinnigen und wunderbaren Betrachtungen. Ich selbst weiß davon zu erzählen. In der Vorhalle, wo ich oft meines Herrn gewärtig mich stundenlang aufhielt und auch der Kanzler zuweilen, ohne meiner zu achten, in tiefem Sinnen auf und nieder schritt, hing in einer düstren Ecke ein großer hölzerner Kruzifixus, ein grobes, mageres Werk, aber ein Haupt mit rührenden Zügen. Der König hielt ihn hoch in Ehren, weil sein Vorfahr, Wilhelm der Eroberer, ihn vor der Schlacht bei Hastings inbrünstig angebetet und durch seine Macht dann auch den Sieg erlangt hatte. Auf dieses Bildwerk hatte der Kanzler sich sonst wohl gehütet, seine verwöhnten Augen zu heften; denn er verabscheute das rieselnde Blut und das Häßliche. Aber in jener Zeit hörte ich zuweilen mit Verwundern, wie er mit dem gebräunten Kruzifixus Zwiesprache hielt. In arabischer Zunge, ich vernahm es deutlich, flüsterte er mit ihm. – Ich freute mich, daß er sich an den guten Tröster wandte, obschon mir dabei fast unheimlich zumute war; denn, Herr, ich hörte davon zu wenig und zu viel und Dinge, die ich nicht gern wiederholen mag, weil sie, wenn nicht Eure Seele gefährden, doch Eurer Frömmigkeit zum Ärgernis sein könnten Wußt ich doch nicht, inwieweit Herr Thomas das maurische Wesen von sich getan und ob er, wie wir, den Hochgelobten, der am Kreuze hängt, als den heiligen Gott selber anrufe. Einzelne Stoßseufzer, unzusammenhängende Worte nur vernahm ich in der allmählich aus meinem Gedächtnisse entschwindenden Sprache, die mich erbauten oder auch erschreckten. Innig und schmerzvoll sprach er zu dem stillen Gekreuzigten, aber lästerlich und wie zu seinesgleichen, so schien mir.

Also geschah es eines Tages, daß der Kanzler wiederum vor dem Bildnisse stand ohne mich gewahr zu werden, der, in einer Ecke des weiten Gemaches auf einem Schemel sitzend, sich stille hielt und gering machte.

›Auch du hast gelitten‹, so hauchte er, ›und wohl so grausig, als du hier in der Marter schwebst! . . . Warum? Warum? . . . Der Welt Sünde zu tragen, steht geschrieben ... Was hast du gesühnt, du himmlisches Gemüt? . . . Friede solltest du bringen und an den Menschen ein Wohlgefallen ... aber, siehe, diese Erde dampft und stinkt noch von Blut und Greuel ... und Schuld und Unschuld wird gemordet wie vor deiner Zeit! . . .

Sie haben dich geschlagen, angespieen, gemartert ... Du aber beharrtest in der Tapferkeit der Liebe und batest am Kreuze für deine Mörder ... Verscheuche den Geier des unversöhnlichen Grams, der mein Herz verzehrt! . . . Damit ich in deine Stapfen trete ... Ich bin der Ärmste und Elendeste der Sterblichen ... Siehe, ich gehöre dir zu und kann nicht von dir lassen, du geduldiger König der verhöhnten und gekreuzigten Menschheit! . . .‹

Nachdem der Kanzler noch eine Weile mit dem Bilde geflüstert, wendete er sich langsam und entdeckte mich auf meinem Schemel. Ich hielt mich unverwundert und beschloß tapfer zu lügen, wenn er mich früge, ob ich ihn belauscht hätte.



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